Grundlagen: Sight Reading ("vom Blatt spielen")

Sight Reading oder auf Deutsch “vom Blatt spielen” gehört zu den Fähigkeiten, die häufig bei Profimusikern nachgefragt werden. Doch was hat es damit überhaupt auf sich und wie kann ich es erlernen? Mehr dazu erfährst du in diesem Artikel.

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Das Spielen vom Blatt gehört für Profimusiker zum Berufsalltag. Doch du musst kein Profi sein, um vom Blatt spielen zu können

Mysterium vom Blatt spielen

Oft wird man als Profimusiker gefragt, ob man vom Blatt spielen könne. Bejaht man diese Frage, schlagen dem Musiker ehrfürchtige Blicke und Bewunderung entgegen. Dabei ist das Vom-Blatt-spielen weitaus weniger spannend als viele glauben.

Zunächst einmal sollte jeder Notenkundige vom Blatt spielen können. In der Tat sind meine Klavierschüler den Satz “spiel einfach mal” von mir gewohnt, der immer dann fällt, wenn wir im Unterricht noch Zeit haben und ein neues Stück beginnen. Oft kommt dann erst Gegenwehr (“klappt sowieso nicht”) und dann Erstaunen, wenn das Stück nach dem erstmaligen Durchspielen schon zu 75 bis 80 Prozent klappt.

Das Vom-Blatt-spielen erfordert eigentlich nur zwei Dinge: Notenkenntnisse und Erfahrung. Beides erlangt man durch regelmäßiges Üben am Instrument, was ein Musikschüler jedoch sowieso machen sollte. Wer regelmäßig für seinen Musikunterricht übt, sollte vom Blatt spielen können.

Das Vom-Blatt-spielen ist dabei schon sehr alt und gehörte bei Musikern fest mit zum Arbeitsalltag. Die italienische Bezeichnung lautet a prima vista, was übersetzt “auf den ersten Blick” bedeutet oder kurz: unvorbereitet.

Ein Stück vom Blatt zu spielen ist eine erstrebenswerte Sache

  • für das Üben des Stücks
  • für Bandproben oder Orchesterproben
  • für spontane Sessions
  • für Jobs als Sub
  • für Studiojobs

Wie übe ich das Vom-Blatt-spielen?

In erster Linie stellt sich diese Fähigkeit bei den meisten Musikern von ganz allein ein, wenn sie regelmäßig und aufmerksam üben.

Wer sicher vom Blatt spielen möchte, muss in erster Linie sehr gute Notenkenntnisse besitzen beziehungsweise richtiger: sehr gute Kenntnisse in Harmonielehre.

Harmonielehre? Ja, richtig gelesen. Denn das schnelle Erkennen von Intervallen, Dreiklängen und Akkorden beschleunigt das Vom-Blatt-Spielen ungemein. Wer auf den ersten Blick erkennt, um was für ein Konstrukt es sich gerade handelt, muss nicht alle Töne einzeln lesen. Erkennst du zum Beispiel sofort, dass es sich bei den drei übereinander stehenden Tönen in der rechten Hand um einen Quartsextakkord handelt, reicht das Lesen des untersten oder des obersten Tones. Erkennst du sofort das Intervall zwischen zwei Tönen, reicht das Lesen eines von zwei Tönen.

Das Erkennen von Tonleitern oder Motiven spielt ebenfalls eine große Rolle. Erkennst du schnell eine Tonleiter (Skala), genügen der Start- und der Endton. Ein sehr gutes Beispiel dafür sind viele Sonatinen. Nimm zum Beispiel die Sonata Facile von Mozart. Hier wimmelt es nur so von Tonleitern. Oft wird hier nur der Start- und der Endton verschoben, gelegentlich mal ein einzelner Ton alteriert. Erkennt man die Struktur des Stückes, lässt es sich über weite Teile gut vom Blatt spielen.

Rhythmik spielt eines große Rolle. Kannst du schnell notierte Rhythmen auffassen? Prima! Dann ist der schwierigste Part des Vom-Blatt-Spielens schon geschafft. Übe anhand der Regeln des Notensatzes, schnell die Rhythmik einer Passage zu erfassen. Suche mit dem Auge die Taktmitte in geraden Taktarten. Nutze die Verbalkung von Noten, um Zusammenhänge zu sehen und vor allem schnell zu erfassen, auf welchem Schlag diese Töne gespielt werden müssen. 

Übe das schnelle Greifen von Akkorden und die Tonleiterfingersätze.

Spiele oft vom Blatt

Der wichtigste Tipp von meiner Seite aus ist: Spiele so oft wie möglich vom Blatt.

Versuche möglichst, ein dir unbekanntes Stück, das dir dein Lehrer vielleicht für die Woche aufgibt, erst einmal vom Blatt zu spielen. Nicht alle Passagen eines Stückes sind so schwer zu spielen, dass du sie lange üben musst.

Auch das getrennte Spielen der rechten und der linken Hand gehört zum Vom-Blatt-Spielen dazu!

Spiele dir unbekannte Stücke, die etwas leichter sind als dein derzeitiger Wissensstand grundsätzlich vom Blatt. Es ist schwer, Stücke vom Blatt zu spielen, die auf deinem aktuellen Level angesiedelt sind. Es sollte dich aber nicht vor allzu große Probleme stellen, Stücke vom Blatt zu spielen, die auf einem niedrigeren Niveau sind.

Akzeptiere Fehler! Vom-Blatt-Spielen bedeutet nicht, fehlerfrei zu spielen. Auch Profis mit viel Erfahrung pfuschen, wenn es um das Spielen eines Stückes vom Blatt geht. Es geht nicht um Perfektion. Möchte man Perfektion, muss man ein Stück analysieren und üben. Wenn du ein Stück zu 75 bis 80 Prozent auf Anhieb richtig spielst, wenn du es noch nie zuvor gesehen hast, bist du schon ein sehr guter Vom-Blatt-Spieler. Den Rest musst du so geschickt verstecken, dass er nicht weiter auffällt. 

Je ängstlicher du beim Vom-Blatt-Spiel bist, desto mehr Fehler werden passieren. Sei selbstbewusst, dann klappt es auch und vor allem fallen Fehler dann weniger auf.

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Lead Sheets geben die wichtigsten Parts eines Songs wie Ablauf, Akkorde, gegebenenfalls notierte Intros, Zwischenspiele, Soli, die Rhythmik etc. wieder.

Lead Sheets

In der Popmusik spielen Profis oft gar nicht nach einer komplexen Partitur, sondern nach einem Lead Sheet. In einem Lead Sheet sind nur die wichtigsten Parts notiert, außerdem die Akkorde des Stücks sowie der Ablauf und ggf. die Dynamik. Der Rest wird vom Spieler ad hoc mit Leben gefüllt. Hier spielt es weniger eine Rolle, ob du perfekt Noten lesen kannst, sondern dass du in dem jeweiligen Stil sicher spielst  und das Lesen von Akkordsymbolen dir nicht fremd ist. Alles zum Thema Lead Sheets findest du hier und hier.

Fazit

Um das Thema Vom-Blatt-Spielen oder Sight Reading ranken sich viele Mythen. Doch nichts ist bekanntlich so heiß wie es gekocht wird. Musikschüler, die regelmäßig üben, können auch vom Blatt spielen. Als Musiklehrer ist es die Aufgabe, Schüler dazu im Unterricht aufzufordern. Als Musiker ist es deine Aufgabe, dich mit dem Vom-Blatt-spielen zu beschäftigen, indem du immer mal wieder leichtere Stücke ohne vorheriges Üben spielst. Dabei ist es wichtig, nicht plötzlich ins Üben zu verfallen und Passagen, die nicht gut geklappt haben, aufzudröseln und tatsächlich zu üben. Spiele einfach Stücke durch und lass die Fehler mal Fehler sein. Versuche spontan, schwierige Passagen zu vereinfachen, während du sie spielst. Pfusch und Blendfrei gehören beim Vom-Blatt-spielen mit dazu. Übe das Vom-Blatt-spielen immer mit Stücken, die etwas leichter sind als das, was du eigentlich zu spielen in der Lage bist. Ein solides Handwerkszeug wie Notenkenntnisse, Rhythmik, Harmonielehre und Tonleiterfingersätze gehört natürlich mit dazu. Und nun: Ran an ein unbekanntes Stück! Spiel einfach drauf los und berichte mir, wie es geklappt hat. Vermutlich wirst du erstaunt sein, dass es tatsächlich funktioniert.

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