Notenlesen lernen vs. Tabulatur
Im Gitarrenunterricht stellt sich früher oder später die Frage, welche Form der Notation der Vorzug gegeben werden sollte, der Notenschrift oder der Tabulatur?
Viele Gitarristen scheuen vor dem Notenlesen zurück oder erachten es gar als unnötig, da die Gitarrentabulatur eigentlich sowie alle wesentlichen Informationen enthält (und sogar mehr als die Notenschrift). Schließlich ist sie speziell für die Gitarre entwickelt worden.
Letzteres stimmt nicht ganz, denn Tabulaturen gibt/gab es für viele Instrumente, zum Beispiel auch für die Orgel. Die Tabulatur für die Laute (und andere Saiteninstrumente) ist aber unserer heutigen Tabulatur sehr nahe. Doch schauen wir uns zunächst einmal die Vor- und Nachteile von Notensystem und Tabulatur etwas näher an.
Vorteile des Notensystems
Unser Notensystem ist ganz schön schlau konzipiert, denn es kodiert in einer einzigen Note deren Tonhöhe und deren Tondauer. Ein Takt markiert einen rhythmischen Abschnitt innerhalb der Form. Der Notenschlüssel kodiert die Bedeutung der Linien und die Taktart sagt mir, welcher Notenwert dem Grundschlag entspricht und wie viele davon in einem Takt enthalten sind. Fünf Linien, vier Zwischenräume und eine Handvoll Noten und Pausen sind alles, was der Musiker benötigt, um damit selbst komplexeste Musik aufzuschreiben.
Zusätzliche Zeichen für die Artikulation oder die Lautstärke, Wiederholungszeichen und andere Sprungmarken, Tempobezeichnungen und vieles mehr gestatten es, selbst die gewünschte Interpretation innerhalb der Notenschrift zu kodieren. So kann der Notenkundige selbst einem Werk vergangener Jahrhunderte, von dem es keine Tonaufnahmen des Komponisten selbst gibt, weil die Tonaufzeichnung noch nicht erfunden war, entnehmen, wie es zu spielen ist und geklungen haben mag.
Notenschrift als Grundlage der Harmonielehre
Die Notenschrift ist die Grundlage der Harmonielehre. Alle wichtigen Grundsätze der Harmonielehre lassen sich schnell anhand der Notenschrift erkennen und erlernen. Tonhöhenverläufe lassen sich schnell erkennen und mit etwas Übung können Sänger und Sängerinnen vom Blatt singen. Kompositionstechniken sind ebenfalls leicht zu erkennen und können dann selbst eingesetzt werden. Wer Noten von anderen Instrumenten auf das eigene Instrument übertragen möchte, kommt ebenfalls an der Notenschrift nicht vorbei.
Die Notenschrift ist eine der größten Errungenschaften der Musikgeschichte. Und doch: Sie stellt Gitarristen vor große Herausforderungen, die durch die Tabulaturschreibweise im ersten Moment behoben scheinen.
Vorteile der Tabulatur
Prinzipbedingt gibt es auf der Gitarre die meisten Töne mehrfach. So kann ein Ton auf verschiedenen Saiten in verschiedenen Bünden gespielt werden. Er hat dann die gleiche Tonhöhe, aber in der Regel einen leicht unterschiedlichen Klang. Gitarristen müssen also überlegen, wo welcher Ton gegriffen wird und welche Möglichkeit man wählt, wenn mehrere zur Auswahl stehen.
An diesem Punkt setzt die Gitarrentabulatur an. Die sechs horizontalen Linien entsprechen den Gitarrensaiten und die Zahlen dem Bund, in dem ich auf der jeweils angegebenen Saite greifen muss. So wird eindeutig festgelegt, wo ein bestimmter Ton zu greifen ist. Doch wer legt das eigentlich fest?
Nachteile der Tabulatur
Ich habe schon mit unzähligen Schülern beim Spielen gekaufter Tabulaturen festgestellt, dass die vorgegebene Art, eine bestimmte Tonfolge eines Stückes zu spielen, gar nicht die beste ist. Wir haben das dann im Unterricht spontan geändert. Die Tabulatur ist nur ein Vorschlag, das, was dort steht, ist nicht in Stein gemeißelt. Leider sagt die Tabulatur aber nicht, um welchen Ton es sich gerade handelt. Viele Gitarrenpartituren in Tabulaturschreibweise ergänzen deshalb ein zweites System in herkömmlicher Notation. Diese nützt nur nichts, wenn man sie nicht lesen kann. Wenn ich nicht weiß, welchen Ton ich gerade spiele, kann ich auch keine qualifizierte Entscheidung darüber treffen, ob die angegebene Möglichkeit auch wirklich gut ist oder sich doch eine bessere anbietet.
Ein Problem der Tabulatur ist, dass in der Regel weder Fingersatz noch Rhythmus notiert werden. Auch Tonhöhenverläufe sind nur begrenzt erkennbar. In der Notenschrift hingegen ist der Rhythmus fester Bestandteil des Systems und Fingersätze werden einfach als kleine Zahlen neben oder über die Notenköpfe geschrieben.
Zwar gibt es auch Tabulatursysteme, die eine Rhythmusnotation beinhalten, indem diese der Notenschrift entliehen wird und durch Notenköpfe um die Zahlen, Notenhälse, Fähnchen und Balken wird wie in der Notenschrift angezeigt, mit welchem Rhythmus etwas zu spielen ist und wie lange ein Ton ausgehalten werden soll.
Aber: Wenn man sowieso diesen Part des Tabulatursystems erlernen muss, warum dann nicht auch gleich die zweite Hälfte des Notensystems, die Tonhöhennotation, mit dazu erlernen? Ich behaupte nämlich, dass der schwierigere Teil des Notenlesens das Lesen und Verstehen der Rhythmusnotation ist und nicht das Lesen der Tonhöhe.
An dem vorangestellten Beispiel siehst du, dass die Notenhälse und teils auch die Notenköpfe in die Tabulatur übertragen wurden. Das sind für gerade einmal acht Takte eine Menge Informationen. Oft wird deshalb die Notenzeile ausgeblendet. Dann kann der Gitarrist aber überhaupt nicht mehr so einfach sagen, welcher Ton da eigentlich gerade gespielt wird – außer er lernt die Tonnamen für alle Zahlen auf allen Saiten auswendig.
Musiktheorie schwer erkennbar
Auch die Mechanismen der Harmonielehre lassen sich an der Gitarrentabulatur nicht verdeutlichen. Kompositionstechniken werden ebenfalls kaum ersichtlich. Oder kannst du das Thema des folgenden Kinderliedes anhand der Tabulatur nachsingen oder analysieren (welche Motive, welche Kompositionstechniken)?
Also doch Noten?
Erweitert man die herkömmliche Notenschrift um einige wenige Angaben, lässt sie sich genauso flüssig lesen wie eine Gitarrentabulatur. Angegeben werden zusätzlich in Römischen Zahlen die Lage und die Saite in Arabischen Zahlen. Die Lage bestimmt, in welchem Bund der Zeigefinger liegt, während die Nummer der Saite mir sagt, auf welcher Saite ich den notierten Ton finde. Mit diesen beiden Angaben und etwas Orientierung auf dem Griffbrett kann man flüssig nach Noten auf der Gitarre spielen. Schreibt man für Anfänger noch die Fingersätze hinzu, ist alles eindeutig definiert und man spielt von Beginn an nach Noten. Schon nach kurzer Zeit wird man gar nicht mehr darüber nachdenken und bald auch ohne weitere Angaben wissen, wo welcher Ton auf der Gitarre zu finden ist.
Alle weiteren Zeichen, die in der Gitarrentabulatur bestimmte Spielweisen kennzeichnen, werden 1:1 in die Notenschrift übernommen. So erhältst du eine gut lesbare Notenschrift, die dennoch die Besonderheiten der Gitarre berücksichtigt.
Fazit
Auch wenn Anfänger sich mittels der Tabulaturschreibweise schneller auf dem Griffbrett der Gitarre zurechtfinden, bleibt diese sehr abstrakt und liefert einige wichtige Informationen nicht, die aber für das Verständnis der Musik und vor allem auch der Harmonielehre oder von Kompositionstechniken wichtig sind. Erweitert man die Notenschrift um einige wenige Angaben wie Lage und zu spielende Saite, ist eigentlich der Informationsgehalt genauso eindeutig wie der einer Gitarrentabulatur. Möchte man Anfängern noch etwas mehr helfen, gibt man noch einen Fingersatz an. Dadurch ist jeder Ton in seiner Lage auf dem Griffbrett eindeutig gekennzeichnet. Fingersätze stellen gerade in der Tabulaturschreibweise ein großes Problem dar, da hier ausschließlich mit Zahlen gearbeitet wird und die Verwechselungsgefahr groß ist. Es ist deshalb ratsam, als Schüler die Scheu vor der herkömmlichen Notation von Musik abzulegen und sich einfach darauf einzulassen.
Tipp: In vielen Apps für die Anzeige von Tabulaturen kannst du die Tabulatur ausschalten und es bleibt nur noch das Notensystem übrig. So lässt sich prima das Notenlesen üben und die Lage der Töne auf dem Griffbrett auch ohne Tabulatur erlernen. Wenn du nicht weiter weißt, schaltest du die Tabulatur einfach wieder kurz ein.