Praxis: So übe ich – richtiges Üben II
Wie übt man richtig? Diese Frage hast du dir bestimmt schon öfter gestellt. Und vor allem: Wie übt man richtig, wenn man nur wenig Zeit zum Üben hat oder das Stück sehr komplex ist? Ich zeige dir in diesem Artikel und dem dazugehörigen Video, wie ich anhand eines konkreten Beispiels vorgehe und ein Stück in seine Bestandteile zerlege, wie ich sie übe, wie ich mit Fingersätzen umgehe und dann alles am Ende zusammensetze.
Das Stück
Wahrscheinlich hast du auch schon öfter auf die Noten eines neuen Stücks geschaut und warst einfach nur überwältigt von dem Anblick der vielen Noten. Wie soll ich das nur schaffen? Ich habe doch gar nicht so viel Zeit. Das waren bestimmt auch deine Gedanken in diesem Moment.
Doch was wäre, wenn ich dir sage, dass selbst das anspruchsvollste Stück auch nur aus kleineren Bruchstücken besteht, die sich viel schneller erlernen lassen und Variationen dieser Bruchstücke dann später ein Thema und Variationen des Themas und die Kombination mit einem weiteren Thema oder weiteren Themen das Stück ergeben? Das Zerlegen eines Problems in kleinere Teilprobleme ist kein Hexenwerk und schon lange Teil jeder Wissenschaft.
Im Video zeige ich dir das anhand eines einfachen Stücks: Music Box Dancer von Frank Mills. Falls du das Video mit Noten nachvollziehen oder das Stück sogar selbst üben möchtest, findest du es in der von mir verwendeten Version von Hans-Günther Heumann in dem folgenden Klavierband:
Strukturen entdecken
Ich nehme mir bei einem neuen Stück immer zunächst die Noten vor und versuche, in dem Notentext mir schon bekannte Strukturen oder Muster zu entdecken. In dem Stück Music Box Dancer von Frank Mills ist es zum Beispiel die linke Hand, die mir auffällt. Das Stück besteht im Wesentlichen nur aus drei Akkorden, die in einer bestimmten Weise als Akkordzerlegung gespielt werden: dem Alberti Bass. Gespielt wird immer zuerst der tiefste Ton, dann der höchste Ton gefolgt vom mittleren Ton und wieder gefolgt vom höchsten Ton. Eine solche Begleitung finden wir auch in vielen klassischen Stücken, zum Beispiel der Sonata Facile von Wolfgang Amadeus Mozart.
Akkordfolge üben
Ich übe nun zunächst die Akkordfolge der ersten vier Takte, denn diese wiederholt sich anschließend mehrfach in gleicher Form. Ich schlage also alle Töne gemeinsam an und übe, die Finger von Akkord zu Akkord richtig zu setzen und präge mir den Fingersatz ein. Da es bei Akkorden nur wenige Standardfingersätze für die Grundstellung und die Umkehrungen gibt, lässt sich dieses Wissen auch auf und von anderen Stücken mit akkordischer Begleitung übertragen.
Alberti Bass üben
Nun übe ich die Akkordfolge mit ihrer Akkordzerlegung (Alberti Bass). Das ist nun nicht mehr schwer, da ich schon gelernt habe, die Finger richtig zu legen und die Akkorde zu greifen. Ich muss nun nur noch die Finger in der richtigen Reihenfolge bewegen: 5-1-3-1 für die Grundstellung und Sextakkorde (1. Umkehrung) und 5-1-2-1 für Quartsextakkorde (2. Umkehrung). Das ist nun nicht mehr schwer. Ich spiele die vier Takte auf diese Weise mehrfach, um sie mir einzuprägen und das Spielen zu automatisieren.
Melodie analysieren
Die Melodie von Music Box Dancer besteht ebenfalls aus Akkordbrechungen und kleineren Tonleiterfragmenten. Ich beginne mit den ersten zwei Takten. Es handelt sich auch hier um eine Zerlegung eines C-Dur Akkords. Es gibt mehrere Fingersätze, die man nutzen könne. Welcher Fingersatz richtig ist, hängt von der Handgröße, der Spanne, die man greifen kann und den persönlichen Vorlieben ab. Nutze immer denselben Fingersatz und ändere ihn nicht mehr spontan. So prägt er sich besser ein und Spielfehler werden verhindert.
Der zweite Takt besteht aus einem kleinen Tonleiterfragment. Ich bemerkte, dass hier die Finger schon auf den richtigen Tasten liegen und ich sie nur noch in der richtigen Reihenfolge bewegen muss. Easy.
Der dritte Takt ist wieder eine Akkordbrechung. Hier gilt all das, was ich im ersten Takt schon geübt habe, gleichermaßen. Der vierte Takt ist erneut eine Akkordbrechung. Dito.
Nun spiele ich diese vier Takte mehrfach, um mir die Melodie und den Fingersatz einzuprägen.
Die Hälfte ist geschafft
Die nun erlernten vier Takte setze ich zusammen und spiele im langsamen Tempo rechte und linke Hand gemeinsam. Sobald das klappt, habe ich die Hälfte des Stücks geschafft. Wie bitte? Aber das waren doch nur vier Takte!
Ja, aber diese vier Takte wiederholen sich nun in fast identischer Form bis zu “Haus 1” vor der Wiederholung. Du musst also nur noch lernen, was in der ersten Klammer steht. Dann springst du wieder zum Wiederholungsstart zurück. Und das Intro? Schau dir die linke Hand genau an (die rechte Hand hat Pause): es ist eigentlich nur der C-Dur Alberti Bass, den du bereits erlernt hast.
Weiter geht's
Auf der zweiten Seite erwartet dich im Prinzip nicht viel Neues. Die rechte Hand spielt weiterhin Arpeggios, also Akkordzerlegungen, die linke Hand ebenfalls. Beide sind stark an das angelehnt, was du auf der ersten Seite schon gelernt hast. Es sind einfach nun andere Töne.
Ein Tipp für die linke Hand: der kleine Finger ist dein Ankerpunkt. Er bewegt sich aufgrund der genutzten Akkordumkehrungen nur immer je eine weiße Taste abwärts. So hast du eine bessere Kontrolle über die Bewegung der gesamten linken Hand. Der Rest ist Standardkost aus der ersten Seite: Alberti Bässe.
Kleine Stücke, viel Erfolg
Mit dieser Methode solltest du selbst mit nur 10-minütiger Übezeit pro Tag das Stück nach spätestens einer Woche spielen können. Auch schwerere und große Werke lassen sich auf diese Weise zerlegen. Das hat auch viel mit Psychologie zu tun: kleine Probleme – kleine Sorgen, große Probleme – große Sorgen. Da nehmen wir doch lieber die kleinen Probleme und zerlegen unser großes Problem in diese. Das habe ich auch im Musikstudium so gemacht und glaube mir, so wirken selbst komplexe Stücke weniger beängstigend.
Video
Schau dir das Video an, in dem ich dir das alles am Stück Music Box Dancer demonstriere und probiere es selbst aus (geht mit jedem Stück). Schreibe mir deine Erfahrungen mit dieser Methode gerne ins Forum oder per Email.